PIRAMIDA

Piramida 1994, 2009, 2019

Piramida, Spitzbergen, 1994 / Berlin, 2018

Das Boot schlägt hart auf die Wellen, der Motor dröhnt so laut, dass ich den Skipper kaum verstehen kann, der uns mehr durch Zeichensprache zu verstehen gibt, dass wir Glück haben, doch noch nach Piramida zu kommen. Der Sturm hatte ihn im Hafen von Longyearbyen festgehalten, sodass er erst mit Verspätung aufbrechen konnte, um uns vom Camp Brucebyen am Nordenskjöldbreen abzuholen. Es ist 1 Uhr nachts, die Sonne blinkt hinter den am Himmel dahineilenden Wolken hervor und tupft Lichtinseln auf die Wasserfläche vor uns. Das Meer ist aufgewühlt, lässt das kleine Motorboot von Schaumkrone zu Schaumkrone springen, in die Wellentäler krachen, jedes Mal begleitet von Wasserfontänen, die das Meer mit einem Rauschen gegen die Windschutzscheibe schüttet. Nur allmählich schälen sich die Konturen einer Siedlung aus dem diffusen Ornament der Gebirgskette am Horizont, die das von den Scheiben ablaufende Wasser freigibt. Nach endlos scheinender, das Kreuz ermüdender Fahrt erreichen wir den windschiefen, hölzernen Anleger von Piramida und fädeln uns zwischen die wenigen festgemachten Boote. Die einzigen Lebewesen, die uns in der schlafenden Siedlung empfangen, sind riesige Eismöwen, die flatternd den herumliegenden Müll mit ihren gelben Schnäbeln auseinanderzerren. Der Skipper reicht mir die Hand und ich springe auf den Steg und in eine andere Welt.

Dann eine Nacht wie in einem surrealen Traum. Das Hotel Tulipan, durch das die dichtfremde Atmosphäre des Kommunismus zieht. Ein Zimmer mit riesiggeblümten, dunkelverblassten Tapeten auf Wänden so dünn wie Knäckebrot, in deren Ecken das Dämmerlicht kaum vorzudringen vermag. Ich fühle mich wie ein Fremdkörper in diesem Hotelzimmer, das zu groß für mich scheint und dessen hohe Fenster von Vorhängen eskortiert sind, so schwer, dass ich Angst habe, von ihnen verschlungen zu werden. Im Bad huscht ein Käfer hinter den Spiegel über dem Waschbecken, als ich das Licht anknipse.

Das Frühstück am nächsten Morgen, das wir in einem für die Hotelgäste durch dünne Stellwände abgetrennten Separee der Kantine für die Bergwerksangestellten einnehmen, besteht aus einer gläsern-dünnen, jedoch erstaunlich kräftigen Suppe, heiß-fettiger Wurst und grauem russischem Brot. Wir verlassen das Hotel in eine unwirkliche Landschaft, laufen zwischen uniformen Häuserfluchten, durch die der Wind fegt, auf Wegen, in deren Beton die Eiseskälte vergangener Winter offene Wunden geschlagen hat. Aus der Isolierung der Wasserleitungen, die die Wege entlangmäandern, dringt an manchen Stellen Dampf in quellenden Schwaden, die mit dem Wind davontanzen. Im Hintergrund düstere Berge, die sich unter die tiefhängenden Wolken ducken. Wir sind auf dem Weg zu der russischen Familie, die Alan von einem Besuch in früheren Jahren kennt, wir haben Obst, Kaffee, Schokolade und Tee im Gepäck, wir wissen, dass die Menschen hier zwar mit vielem versorgt sind, aber Obstkaffeeteeschokolade ist Mangelware in dieser Welt, die so völlig anders ist als die, die ich kenne.

Auf unser Klingeln öffnet eine fremde zierliche Frau, vielleicht Mitte 30. Alans Freunde leben offenbar nicht mehr hier, ob sie in die Heimat zurückgekehrt sind, bleibt ein Rätsel – die Verständigung mit der Frau ist schwierig, sie kann kein Deutsch, kein Englisch, wir können kein Russisch. Sie lässt uns ein in eine sehr aufgeräumte, schlicht-funktional eingerichtete Wohnung, die sich wahrscheinlich nur in den spärlichen persönlichen Details von den Nachbarwohnungen unterscheidet. Mit rührender Gastfreundlichkeit bittet sie uns an den einzigen Tisch, huscht umher, um uns zu bewirten, kocht Tee, den sie in winzigen Tässchen serviert, und fingert ein kleines Schälchen mit Bonbons hervor, das sich verliert in der Weite des auf einmal sehr großen Tisches. Bonbons, die sie, so scheint es, hütet für ganz besondere Anlässe. Ich bin ein wenig beschämt, offenbar sind wir ein solcher Anlass, und offenbar möchte unsere Gastgeberin das Wenige, das sie aus dem Irgendwo ihrer kleinen Wohnung gezaubert hat, mit uns teilen. Und instinktiv spüre ich, dass es ein Fehler wäre, nichts davon anzunehmen.

An ein Wunder grenzt, dass wir doch so viel von ihr erfahren, obwohl keiner die Sprache des anderen spricht. Darüber staune ich aber erst Tage später, als es mir klar wird. Sie, an deren Namen ich mich nicht erinnern kann, lebt mit ihrem Mann hier in Piramida. Er hat den Posten als leitender Geologe auf dieser einsamen kalt-kargen Insel angenommen, um die Familie in der Heimat zu versorgen. Es geht ihnen gut hier, sie werden mit allem versorgt, die Arbeit an diesem Ort, der aus der Welt gefallen scheint, ist besser bezahlt als jede Arbeit zu Hause. Sie ist Sportlehrerin und unterrichtet die Kinder an der Schule. In ihrem früheren Leben war sie Leistungssportlerin, hat Medaillen gewonnen, eine davon zeigt sie mir mit scheu-stillem Stolz. Ihr größter Kummer ist, dass ihre eigene kleine Tochter weit weg in der Heimat bei der Oma lebt, die Sehnsucht nach ihr hat sich in ihren Gesichtszügen niedergelassen. Als wir ihr das Paket mit unseren verwaisten Mitbringseln überreichen, sehen wir ihre Freude. Und in ihrer Dankbarkeit möchte sie sich revanchieren, flattert auf der hastig-hilflosen Suche nach etwas, das sie uns geben kann, durch die Wohnung. Schließlich drückt sie mir etwas in die Hand. Als ich die Hand öffne, fällt mein Blick auf eine kleine Matrjoschka-Puppe, es ist die kleinste, jene, die für gewöhnlich im innersten Innern der anderen Puppen ruht. Und – da ist noch etwas: die kleine Medaille, die sie vor Jahren, in einem anderen Leben, gewonnen hat und die sie mir vorhin noch mit bescheidenem Stolz gezeigt hat.

Als wir nachmittags aufs Schiff steigen, das uns zurück nach Longyearbyen bringen soll, fühlt es sich an, als ob ich aus einer Filmkulisse zurück in die Wirklichkeit falle, der röhrende Schiffsmotor, das Gewimmel der bunt gekleideten Touristen an Bord, ihre Gespräche holen mich zurück in eine vertraute, auf einmal sehr laute Welt. Als wir ablegen, gehe ich zur Reling und blicke nachdenklich dem schäumenden Kielwasser hinterher und auf die kleiner werdenden Umrisse der Häuser von Piramida. In meiner Jackentasche fühle ich 2 Gegenstände, ich greife sie und halte sie wie in einem Kokon in meiner Hand – die kleine Puppe und die Medaille.

Beides hüte ich bis heute.

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Der Besuch Piramidas im Jahr 1994 fand zu einem Zeitpunkt statt, als die russische Regierung bereits damit begann, den Kohlebergbau vor Ort zu reduzieren und einen Teil der Bevölkerung zurück in die Heimat zu schicken. Den finalen Ausschlag für das Schließen der letzten Mine im Jahr 1998 gab der tragische Absturz einer russischen Passagiermaschine, der sich im August 1996 beim Landeanflug nahe Longyearbyen ereignete. Alle 143 Passagiere, größtenteils russische und ukrainische Arbeiter auf ihrem Weg zurück in die russischen Bergbausiedlungen, kamen damals ums Leben.
Im Jahr 2000 schließlich verließen die letzten Bewohner den Ort.

Im Verlauf eines 10-tägigen Aufenthaltes in Piramida im Jahr 2009 wurde deutlich, dass der Ort sich in einem Übergangsstadium befand. Viele der Gebäude waren dem Verfall preisgegeben und lediglich von Möwen bewohnt. Damals war noch nicht klar, in welche Richtung die Entwicklung gehen würde. Zu diesem Zeitpunkt wurde der Ort nur notdürftig von einer kleinen Truppe an Arbeitern, die hier ganzjährig Aufräum- und minimale Instandhaltungsarbeiten vornahmen, vor dem völligen Verfall bewahrt, so auch das Hotel Tulipan. Touristische Besuche waren damals selten und noch nicht Teil eines Marketingkonzeptes.

Bei einem weiteren Besuch im Jahr 2019 präsentierte sich der Ort als touristische Attraktion, mittlerweile als fester Programmpunkt zahlreicher Veranstalter von Kreuzfahrtreisen und Tagestouren. Im Rahmen von Führungen konnte man eine Reihe der Gebäude besichtigen, viele Bilder darüber kursieren im Internet und in den sozialen Medien. Im Hotel Tulipan bewirtete man die Touristen an einer Bar in der Hotellobby mit Alkohol und Souvenirs.

Die Familie, die Alan und ich 1994 eigentlich besuchen wollten und nicht antrafen, kam bei dem Flugzeugabsturz 1996 ums Leben.

Das Haus, in dem 1994 der Besuch stattfand, existiert nur mehr in meiner Erinnerung.