STATE TRANSITION

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Piramida, Spitzbergen, 1994 / Berlin, 2018

Das Boot schlägt hart auf die Wellen, der Motor dröhnt so laut, dass ich den Skipper kaum verstehen kann, der uns mehr durch Zeichensprache zu verstehen gibt, dass wir Glück haben, doch noch nach Pyramiden zu kommen. Der Sturm hatte ihn im Hafen von Longyearbyen festgehalten, sodass er erst mit Verspätung aufbrechen konnte, um uns vom Camp Brucebyen am Nordenskjöldbreen abzuholen. Es ist 1 Uhr nachts, die Sonne blinkt hinter den am Himmel dahineilenden Wolken hervor und tupft Lichtinseln auf die Wasserfläche vor uns. Das Meer ist aufgewühlt, lässt das kleine Motorboot von Schaumkrone zu Schaumkrone springen, in die Wellentäler krachen, jedes Mal begleitet von Wasserfontänen, die das Meer mit einem Rauschen gegen die Windschutzscheibe schüttet. Nur allmählich schälen sich die Konturen einer Siedlung aus dem diffusen Ornament der Gebirgskette am Horizont, die das von den Scheiben ablaufende Wasser freigibt. Nach endlos scheinender, das Kreuz ermüdender Fahrt erreichen wir den windschiefen, hölzernen Anleger von Pyramiden und fädeln uns zwischen die wenigen festgemachten Boote. Die einzigen Lebewesen, die uns in der schlafenden Siedlung empfangen, sind riesige Eismöwen, die flatternd den herumliegenden Müll mit ihren gelben Schnäbeln auseinanderzerren. Der Skipper reicht mir die Hand und ich springe auf den Steg und in eine andere Welt.

Dann eine Nacht wie in einem surrealen Traum. Das Hotel Tulipan, durch das die dichtfremde Atmosphäre des Kommunismus zieht. Ein Zimmer mit riesiggeblümten, dunkelverblassten Tapeten auf Wänden so dünn wie Knäckebrot, in deren Ecken das Dämmerlicht kaum vorzudringen vermag. Ich fühle mich wie ein Fremdkörper in diesem Hotelzimmer, das zu groß für mich scheint und dessen hohe Fenster von Vorhängen eskortiert sind, so schwer, dass ich Angst habe, von ihnen verschlungen zu werden. Im Bad huscht ein Käfer hinter den Spiegel über dem Waschbecken, als ich das Licht anknipse.

Das Frühstück am nächsten Morgen, das wir in einem für die Hotelgäste durch dünne Stellwände abgetrennten Separee der Kantine für die Bergwerksangestellten einnehmen, besteht aus einer gläsern-dünnen, jedoch erstaunlich kräftigen Suppe, heiß-fettiger Wurst und grauem russischem Brot. Wir verlassen das Hotel in eine unwirkliche Landschaft, laufen zwischen uniformen Häuserfluchten, durch die der Wind fegt, auf Wegen, in deren Beton die Eiseskälte vergangener Winter offene Wunden geschlagen hat. Aus der Isolierung der Wasserleitungen, die die Wege entlangmäandern, dringt an manchen Stellen Dampf in quellenden Schwaden, die mit dem Wind davontanzen. Im Hintergrund düstere Berge, die sich unter die tiefhängenden Wolken ducken. Wir sind auf dem Weg zu der russischen Familie, die Alan von einem Besuch in früheren Jahren kennt, wir haben Obst, Kaffee, Schokolade und Tee im Gepäck, wir wissen, dass die Menschen hier zwar mit vielem versorgt sind, aber Obstkaffeeteeschokolade ist Mangelware in dieser Welt, die so völlig anders ist als die, die ich kenne.

Auf unser Klingeln öffnet eine fremde zierliche Frau, vielleicht Mitte 30. Alans Freunde leben offenbar nicht mehr hier, ob sie in die Heimat zurückgekehrt sind, bleibt ein Rätsel – die Verständigung mit der Frau ist schwierig, sie kann kein Deutsch, kein Englisch, wir können kein Russisch. Sie lässt uns ein in eine sehr aufgeräumte, schlicht-funktional eingerichtete Wohnung, die sich wahrscheinlich nur in den spärlichen persönlichen Details von den Nachbarwohnungen unterscheidet. Mit rührender Gastfreundlichkeit bittet sie uns an den einzigen Tisch, huscht umher, um uns zu bewirten, kocht Tee, den sie in winzigen Tässchen serviert, und fingert ein kleines Schälchen mit Bonbons hervor, das sich verliert in der Weite des auf einmal sehr großen Tisches. Bonbons, die sie, so scheint es, hütet für ganz besondere Anlässe. Ich bin ein wenig beschämt, offenbar sind wir ein solcher Anlass, und offenbar möchte unsere Gastgeberin das Wenige, das sie aus dem Irgendwo ihrer kleinen Wohnung gezaubert hat, mit uns teilen. Und instinktiv spüre ich, dass es ein Fehler wäre, nichts davon anzunehmen.

An ein Wunder grenzt, dass wir doch so viel von ihr erfahren, obwohl keiner die Sprache des anderen spricht. Darüber staune ich aber erst Tage später, als es mir klar wird. Sie, an deren Namen ich mich nicht erinnern kann, lebt mit ihrem Mann hier in Pyramiden. Er hat den Posten als leitender Geologe auf dieser einsamen kalt-kargen Insel angenommen, um die Familie in der Heimat zu versorgen. Es geht ihnen gut hier, sie werden mit allem versorgt, die Arbeit an diesem Ort, der aus der Welt gefallen scheint, ist besser bezahlt als jede Arbeit zu Hause. Sie ist Sportlehrerin und unterrichtet die Kinder an der Schule. In ihrem früheren Leben war sie Leistungssportlerin, hat Medaillen gewonnen, eine davon zeigt sie mir mit scheu-stillem Stolz. Ihr größter Kummer ist, dass ihre eigene kleine Tochter weit weg in der Heimat bei der Oma lebt, die Sehnsucht nach ihr hat sich in ihren Gesichtszügen niedergelassen. Als wir ihr das Paket mit unseren verwaisten Mitbringseln überreichen, sehen wir ihre Freude. Und in ihrer Dankbarkeit möchte sie sich revanchieren, flattert auf der hastig-hilflosen Suche nach etwas, das sie uns geben kann, durch die Wohnung. Schließlich drückt sie mir etwas in die Hand. Als ich die Hand öffne, fällt mein Blick auf eine kleine Matrjoschka-Puppe, es ist die kleinste, jene, die für gewöhnlich im innersten Innern der anderen Puppen ruht. Und – da ist noch etwas: die kleine Medaille, die sie vor Jahren, in einem anderen Leben, gewonnen hat und die sie mir vorhin noch mit bescheidenem Stolz gezeigt hat.

Als wir nachmittags aufs Schiff steigen, das uns zurück nach Longyearbyen bringen soll, fühlt es sich an, als ob ich aus einer Filmkulisse zurück in die Wirklichkeit falle, der röhrende Schiffsmotor, das Gewimmel der bunt gekleideten Touristen an Bord, ihre Gespräche holen mich zurück in eine vertraute, auf einmal sehr laute Welt. Als wir ablegen, gehe ich zur Reling und blicke nachdenklich dem schäumenden Kielwasser hinterher und auf die kleiner werdenden Umrisse der Häuser von Pyramiden. In meiner Jackentasche fühle ich 2 Gegenstände, ich greife sie und halte sie wie in einem Kokon in meiner Hand – die kleine Puppe und die Medaille.

Beides hüte ich bis heute.

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Der Besuch Pyramidens im Jahr 1994 fand zu einem Zeitpunkt statt, als die russische Regierung bereits damit begann, den Kohlebergbau vor Ort zu reduzieren und einen Teil der Bevölkerung zurück in die Heimat zu schicken. 1998 wurde die letzte Mine geschlossen, im Jahr 2000 verließen die letzten Bewohner den Ort.

Im Verlauf eines 10-tägigen Aufenthaltes in Pyramiden im Jahr 2009 wurde deutlich, dass der Ort sich in einem Übergangsstadium befand. Viele der Gebäude waren dem Verfall preisgegeben und lediglich von Möwen bewohnt. Damals war noch nicht klar, in welche Richtung die Entwicklung gehen würde. Zu diesem Zeitpunkt wurde der Ort nur notdürftig von einer kleinen Truppe an Arbeitern, die hier ganzjährig Aufräum- und minimale Instandhaltungsarbeiten vornahmen, vor dem völligen Verfall bewahrt, so auch das Hotel Tulipan. Touristische Besuche waren damals selten und noch nicht Teil eines Marketingkonzeptes.

Bei einem weiteren Besuch im Jahr 2019 präsentierte sich der Ort als touristische Attraktion, mittlerweile ist er fester Programmpunkt zahlreicher Veranstalter von Kreuzfahrtreisen und Tagestouren. Im Rahmen von Führungen kann man eine Reihe der Gebäude besichtigen, viele Bilder darüber kursieren im Internet und in den sozialen Medien.

Im Hotel Tulipan kann man inzwischen einige der rekonstruierten Räume besichtigen, in der Hotellobby befindet sich eine Bar, in der die Touristen Souvenirs und Alkohol erstehen können.

Das Haus, in dem 1994 der Besuch stattfand, existiert nur mehr in meiner Erinnerung.


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Piramida, Spitsbergen, 1994 / Berlin, 2018

The boat rolls heavily on the waves. The engine roars so loudly that I can hardly understand the skipper, who communicates to us more by sign language that we are lucky to come to Pyramiden, the storm prevented him leaving Longyearbyen harbour. It’s 1 o'clock in the morning, the sun flickers through the clouds scurrying across the sky and dots of sunlight sparkle on the water’s surface in front of us. The sea is churning, making the small motorboat jump from crest to crest, crashing into the troughs, each time sending a fountain of seawater against the windshield with a whoosh. Slowly, as the water slides down the windows, the contours of a settlement reveal themselves amongst the diffuse ornamentation of the mountain range on the horizon. After a seemingly endless and backbreaking journey, we reach the crooked, wooden pier of Pyramiden and thread our way through the few moored boats. The only creatures that welcome us in the dormant settlement are gigantic ice gulls, flapping their wings as they pull apart the garbage around them with their yellow bills. The skipper holds his hand out to me, and I jump onto the dock and into another world.

Then a night like a surreal dream. The hotel Tulipan permeated with the dense-foreign atmosphere of communism. A room with dark-faded, huge-flowered wallpaper decorated on walls as thin as crispbread, whose corners the dim light cannot reach. I feel tiny in this hotel room that seems too big for me and whose high windows are escorted by curtains so heavy that I am afraid of being devoured by them. In the bathroom, a beetle scurries behind the mirror above the washbasin when I turn on the light.

The next morning, we have breakfast in a booth for hotel residents separated from the mine workers’ canteen by thin partitions. Breakfast consists of a clear-as-glass yet surprisingly robust soup, hot, fat sausage and grey Russian bread. We leave the hotel into an unreal landscape, walking between uniform houses through which the wind blows, on paths, in whose concrete the rough freezing cold of past winters has struck open wounds. In some places, steam leaks out of the insulation of the aqueducts that meander along the paths, and transforms into swelling clouds that dance with the wind. In the background, gloomy mountains cower under the low-hanging clouds. We are on our way to the Russian family Alan knows from a visit a couple of years ago. We have fruit, coffee, chocolate and tea for them, we know that the people here are well supplied, but fruitcoffeeteachocolate is hard to come by in this world that is so different from the one I know.

When we ring the doorbell, a strange, petite woman, maybe mid-30s, opens the door. Alan's friends are apparently no longer living here, whether they have returned home remains a mystery - the communication with the woman is difficult, she can’t speak German or English, we can’t speak Russian. She lets us into a very tidy, simply furnished apartment, which probably only differs from the neighbouring apartments in the sparse personal details. With touching hospitality, she asks us to sit at the only table, bustles around to cater for us, makes tea, which she serves in tiny little cups. She searches out sweets and carefully places them in a small bowl, which appears lost in the expanse of the table. Sweets, it seems, that she had saved for special occasions. I am a little ashamed. Evidently we are such an occasion, and evidently, our hostess wants to share with us the little she has conjured up out of the nowhere in her small apartment. And instinctively I feel that it would be a mistake not to accept it.

It is almost a miracle that we come to know so much about her, although no one speaks the language of the other. That first struck and amazed me a few days later. She, whose name I can’t remember, lives with her husband here in Pyramiden. He has accepted the post of chief geologist on this lonely, barren island to provide for the family at home. They are doing well here, they are supplied with everything. The work in this place, which seems to have fallen off the world, is better paid than any work at home. She is a sports teacher and teaches the children at the local school. In her earlier life, she was a competitive athlete, won medals; she shows me one of them with timid pride. Her biggest sorrow is that her own little daughter lives far away with her grandmother in Ukraine. The longing for her daughter has settled in her face. When we give her the package with our orphaned small presents, we see her joy. And in her thankfulness she wants to return the favour, flitting through the apartment on a hasty, helpless search for something she can give us. Finally, she puts something into my hand. Opening my hand, my gaze falls on a small matryoshka doll. It's the tiniest, the one that usually rests in the innermost inside of all the other dolls. And - there's something else: the little medal she won years ago, in another life, and that she showed me with modest pride just a little while ago.

When we climb aboard the ship in the afternoon which takes us back to Longyearbyen, it feels like I'm falling back into reality from a movie set, the roaring ship’s engine, the swarm of colourfully-dressed tourists on board; their conversations bring me back into a familiar, suddenly very loud world. As we set off, I walk to the railing and thoughtfully watch the ship’s foaming wake and the diminishing outlines of the houses of Pyramiden. In my jacket pocket I feel two objects. I grab them and hold them in my hand like in a cocoon - the little doll and the medal.

I am still guarding both.